Ein Nutzerbeitrag von Gert Ewen Ungar
Vor etwas mehr als einem Jahr war es, da trommelte eine Initiative mit dem Namen “Stop Homophobia. Enough is Enough” zur Demonstration vor der Botschaft der Russischen Föderation hier in Berlin. Ich bin hingegangen, denn ich war wie viele andere der queeren Community besorgt um die Rechte und Freiheiten der Schwulen in Russland.
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Kommentar Andy
Auf den ersten Blick erschliesst sich einen Leser kaum der genaue Zweck dieses Beitrags. Worauf will der Verfasser eigentlich hinaus? Was will er uns sagen? Das die Unfreiheit Russlands in Wahrheit gar nicht so schlimm ist wie stets behauptet wird? Das der Westen Europas noch viel schlimmer, zumindest aber keineswegs besser ist? Das es in Russland bei vielen Dingen einfach nur eine andere Meinung gibt?
Für mich steht jedenfalls zweifelsfrei fest, dass es in Russland noch niemals so etwas gab das man auch nur ansatzweise mit Demokratie bezeichnen könnte. Es gibt sie in der Gegenwart nicht und leider sieht es auch in Zukunft nicht danach aus, dass sich in Russland demokratische Zustände durchsetzen könnten. Warum? Nun, die Diktatur hat in Russland eine sehr lange Tradition. Tausend Jahre absolutistische Zarenherrschaft haben Russland in einer Weise wie kaum ein anderes Land geprägt. Und siebzig Jahre Stalinismus-Diktatur konnten daran nicht nur nichts ändern, im Gegenteil, sie haben die Situation noch viel schlimmer gemacht. Anstatt nun wenigstens den westlichen Weg einzuschlagen und sich für die soziale Marktwirtschaft zu entscheiden, beging man in Russland den Fehler von einen Extrem in ein anderes Extrem zu verfallen.
Konnte sich der russische Bürger bisher fest darauf verlassen das der Staat auf feste, unverrückbare Werte und Traditionen beruht, dass es zu alles und allen eine absolute Antwort gab, die zwar menschenrechtlich und moralisch bedenklich gewesen sein mochte, auf die man sich jedoch stets mit absoluter Sicherheit verlassen konnte. Aber damit soll in einer Demokratie ja nun Schluss sein. Neue Sichtweisen tun sich auf, völlig neue Wertungen und moralische Ansichten sind gefragt. Die Bürger sollen nun Toleranz gegen Andersdenkende üben, anstatt sich derer einfach in Sibirien oder gleich in Gefängnissen zu entledigen? Noch schlimmer, nun soll sogar die politische Meinung eines jeden Einzelnen gefragt sein? Nein, davor haben viele Russen eine höllische Angst. Demokratische Mitbestimmung wird in Russland mit Anarchie gleichgesetzt, damit kann man einfach nichts anfangen.
Und nun wundert sich gar mancher Bürger, dass die Marktwirtschaft des freien, ungehinderten Radikalkapitalismus, einen Kapitalismus der im Westen selbst von vielen konservativen Kotzbrocken als nicht umsetzbar eingestuft wird, Ex-Bundeskanzler Schröder und seiner SPD mal ausgenommen, nicht nur das erhoffte Himmelreich auf Erden schaffen kann, sondern im Gegenteil, mit dazu beiträgt das grosse Teile des Landes schlichtweg verelenden.
Welche Rolle spielen denn nun die Schwulen dabei. Dazu muss man wissen, dass Homosexualiät in Russland seit Beginn des Stalinismus strikt verboten war und viele Homosexuelle mit Gefängnishaft bestraft wurden. Erst Anfang der neunzziger Jahre wurden diese Gesetze abgeschafft. Selbst im Westen hat es nach der ersten Änderung des Paragrafen 175 Jahrzehnte der Aufarbeitung bedurft. Wie kann man also so naiv sein und glauben, dass im diktatorisch geschulten Russland alles sehr viel schneller ginge. Generationen von Generationen sind im tiefen Glauben und der absoluten Überzeugung aufgewachsen, dass Schwule und Lesben das absolut Letzte, sprich, einfach nur assoziales Pack sind. Für viele Russen liegt der sozialen Status von Homosexuellen sogar noch weit unter dem von "herkömmlichen" Verbrecher. Das ist zunächst mal der derzeitge Stand der Dinge.
Und nun haben wir die Situation, dass einerseits auch viele Gays in Russland auch oder gerade über das Internet beobachten, wie sich in den letzten Jahren die Rechte der Homosexuellen in vielen Ländern der Erde drastisch verbessert haben, aber andererseits gibt es eine breite Mehrheit die idiologisch immer noch zwischen dem russischen Zaren und Stalin stehengeblieben ist. Und während die politisch-moralische Basis ganzer Generationen weggebrochen ist und eine grundlegende, gesellschaftliche Veränderungen ablaufen, mit all den negativen Begleiterscheinungen die ein freier Kapitalismus für viele Bürger mit sich bringt wie bsw. Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Armut. Und mitten in dieser problembehafteten Zeit kommen nun auch noch die Schwulen und Lesben, Menschen die man zu Sowjetzeiten wie kriminelle Schwerstverbrecher behandelt hat und fordern Rechte, mit denen viele Russen einfach nicht klarkommen. Schnell hat man diese Leute zu den Sündenböcken der Nation erklärt. Präsident Putin dürfte dies jedenfalls recht sein, kann man so doch leicht vom Versagen der eigenen Politik ablenken.
Kapitalistische Methoden der Marktwirtschaft zu respektieren um sich selbst zu bereichern ist das Eine. Demokratische Grundrechte für ausnahmslos alle Bürger des Landes ist aber etwas völlig anderes. Das würde ja bedeuten das man sich uneigennützig für eine Sache einsetzen muss. Auch im Westen Europas war dies ein langer Erkenntnisprozess der vermutlich auch noch lange anhalten wird. In Russland müsste sich dafür zu erst die Einsicht durchsetzen, dass ein Staat für all seine Bürger einstehen muss und nicht nur für einen Teil davon, dass es für echte Demokratie keinerlei Ersatz gibt und vor allen, dass Demokratie nur dann gewährleistet werden kann, wenn die Freiheit eines jeden einzelnen Individuums gesichert ist.
Aber gerade den letzten Punkt haben ja auch viele Ewig-Gestrige im Westen nicht verstanden. Demokratie ist eben nicht einfach nur eine einfache Volksabstimmung. Wäre dem so, könnte man das nationalsozialistische Deutschland glatt als Demokratie bezeichnen. Zumindest bis zu den Ermächtigungsgesetzen, denn die NSDAP wurde 1933 mit 43,9 Prozent gewählt. "Geniale" Idee, erst grenze ich einen Teil des Volkes aus indem ich seine Rechte beschneide oder bewußt kleinhalte und später entscheidet dann die Mehrheit "demokratisch" zu ungunsten einer Minderheit. Grundlegende Menschenrechte können nicht per Volksabstimmung legitimiert oder entsprechend abgeschafft werden. Entweder es gibt sie oder es gibt sie nicht.
Man kann nicht ein Volk, dessen geistige Reife grösstenteils noch auf stalinistische Ausbildung beruht, befragen wie es über Schwule und Lesben denkt und diese homophoben Ansichten dann als demokratisch legitimiert auslegen. Es gibt eben nur eine Wahrheit und die ist auf Seite der Freiheit, der Demokratie, der Toleranz und Akzeptanz und nicht auf Seite von Diktatur, Nationalismus und Ausgrenzung. Und es spielt dabei auch keine Rolle welchen Nachholebedarf es in den westlichen Ländern noch gibt. Natürlich liegt bei uns noch vieles im Argen, aber wenigstens diskutiert man hier darüber, anstatt wie in Russland per Gesetz, jegliche Dikussion und Aufklärung zu unterbinden.
Zitat:Ach herrje, ist das nun grenzenlose Naivität oder einfach nur freche Dreistigkeit? Ich meine, hätte man Anfang der siebziger Jahre die Schwulen in Deutschlands gefragt wie sie sich fühlen, hätten sie nach Änderung des Paragrafen 175 auch gesagt, dass sie sich noch niemals so frei gefühlt haben. Und dennoch hat man als geouteter Schwuler seinen Job verloren, ist aus Armee-, Polizei und Staatsdienst entlassen worden, konnte keine offizielle Partnerschaft eingehen und hatte auch sonst keinerlei damit verbundenen Rechte. Aber hey, man konnte Sex haben und ist nicht im Gefängnis gelandet. Das ist ja schon mal etwas. Genau auf diesen Stand ist Russland heute. Das besondere Problem ergibt sich allerdings durch das neue Propaganda-Gesetz, denn es verbietet jegliche positive Aufklärung in Bezug auf die Homosexualität. Aber ohne Aufklärung und Bildung wird Russland auch die kommenden Jahrzehnte gesellschaftlich und moralisch im tiefsten Mittelalter verbleiben. "Die Diskussion wäre jetzt erst mal angestoßen"? Aber genau diese Art von Diskussion soll doch mit dem Propaganda-Gesetz unterbunden werden. Genau darum geht es doch, dass sich eben nichts ändert.
Ich habe mich daher um Kontakte nach Russland bemüht, zu Schwulen in Moskau und St. Petersburg, das Internet ist ja zum Glück überall. Und auf die in unterschiedlichen Varianten gestellte Frage, ob sie sich unterdrückt fühlen erhält man eigentlich immer die gleiche Antwort: “eeehm …nein!” Die Freiheit habe seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugenommen. Ja, es gebe das Gesetz und es gebe keine Gay Prides, aber insgesamt habe die Freiheit zugenommen. Meine Internetkontakte sind ganz zuversichtlich, dass sich da in Zukunft noch einiges bewegen würde. Die Diskussion wäre jetzt erst mal angestoßen. Auf den entsprechenden Foren in vk.com würde sich viel tun.
Dennoch möchte ich meine Hoffnung nicht vollends aufgeben, dass am Ende Diktaturen keine Chance haben. Wenigstens das hat sich in der Geschichte der Menschheit zweifelsfrei gezeigt. In diesen Sinne, hoffen wir einfach mal das Beste.
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